Ich hatte mich entschlossen, nach
Tula zu fahren, ein Ort, etwa 100 km nördlich, bei dem eine toltekische Anlage zu besichtigen ist.
Am Terminal Norte, am Bus nach Tula, stand eine Gruppe von drei Touristen mit einem mexikanischen Führer, den ich ansprach. Es zeigte sich: er war kein guía, sondern begleitete drei Freunde. Als er erfuhr, ich sei Deutscher, leitete er mich weiter an "Stefan aus Ostfriesland"; die anderen beiden Männer waren Jankees aus Chicago, wo auch Stefan arbeitet.
Es war, darauf mache ich jede Wette, ein internationales schwules Quartett. Obgleich Stefan, der sich über Berlin informierte, meinen beiläufigen Hinweis auf den Winterfeldplatz und Umgebung geflissentlich überging - wie ich fand, zu geflissentlich.
Aber sie waren nett. In Tula quetschten wir uns zu fünft in ein Taxi zu den Ruinen, Stefan vorne auf dem Schoß seines mexicanischen Freundes.
Tula ist, vor allem dank seiner Reliefs und Statuen "in situ" beeindruckender als Teotihuacán, das eher durch seine gigantischen Ausmaße besticht: sozusagen Reichsparteitagsgelände plus Maifeld und Ehrenhalle. Tula dagegen ist intimer und dichter am Alltag. Allerdings war die Stadt, deren zentraler Hügel auch das Zentrum war, deutlich kleiner als Teotihuacán. Mit den beiden Pelota-Spielfeldern, den zwei Pyramiden und dem Palacio Quemado, den man sich als Verwaltungszentrum vorstellen kann, waren hier wohl nicht nur sakrale, sondern auch administrative Funktionen beisammen.
Eine der Pyramiden wird von mächtigen Stelen gekrönt, den Figuren von Kriegern, die, zusammen mit mächtigen Säulen, das Tempeldach auf der Pyramide stützten. Heute stehen sie sozusagen funktionslos in der stechenden Sonne und blicken starr nach Süden.
Ich bedauerte wieder einmal, keine Kamera dabei zu haben. Auch der Reliefs wegen, die, gut erhalten, am Fuß dieser Pyramide Coyoten und Jaguare, die gefiederte Schlange und eine Prozession von sacerdotes zeigen. Eine wundervoll erhaltene Statue vom Chac Mol allerdings hat man ins Museum in situ gestellt. In dem auch die eindrucksvolle polychromatische Keramik von Tula ausgestellt ist. Tula unterhielt Beziehungen zu Chichen Itza, der Maya-Metropole im Südwesten, was an ikonografischen Details und der Verbindung über Quetzalcoatl, die gefiederte Schlange, den Hauptgott der Tolteken belegt ist.
Gemessen an den Maya, aber auch an den Tolteken, deren Erbe die Azteken übernahmen, sind letztere ein barbarisches Volk. Was nebenbei auch eine Führerin im antropologischen Musem zu ihrer deutschen Gruppe gesagt hatte. Ich war denen begegnet, als sie die Maya-Halle verließen und die Führerin ihnen den Weg zum Azteken-Saal wies: "und nun ab zu den Barbaren" sagte sie dazu.
Kurzum: käme ich noch einmal in die Lage, ein paar Semester Altamerikanistik zu studieren, würde ich die Azteken außen vor lassen.
In der Stadt zurück, wählte ich für uns eine kleine Garküche in einer Seitengasse. Ich behauptete einfach, ich hätte eine Nase für sowas. Einen der Amis konnte ich aber nicht recht überzeugen; er zog vor, nichts zu essen.
Der jóven musste das Bier von woanders her holen, aber es war köstlich kalt und kam in einer Flasche, die die Form eines Molotowcocktails hatte, fast birnenförmig, also wundervoll zum Werfen geeignet.
Beim Weg zurück in die Stadt gab es zwei Zwischenfälle in der U-Bahn. Zwischen La Raza im Norden und dem Umsteigebahnhof Balderas war die U-Bahn nicht ganz voll, ich ergatterte sogar einen Sitzplatz. Links von mir lümmelte ein Halbstarker auf dem Sitz für Behinderte - der Einzelsitz längsseits an der Tür wird übrigens fast immer von solchen Kerlen okkupiert, die auch für alte und gebrechliche Menschen nicht aufstehen.
Ich hatte mir schon überlegt, ihn anzusprechen, da vor ihm eine etwas 40-jährige Frau stand, ließ es dann aber bleiben und dachte mir nur mein Teil über die Erziehung junger machos in Mexico. Als plötzlich er mich ansprach: Señor, gehört das Ihnen? Neben mir lag auf dem Boden mein Leibgurt, die kleine Umbindetasche, in der meine Kreditkarte, die Rückflugbuchungen und mein ganzes Geld steckte. Ich hatte nicht gemerkt, dass sich ihr Verschluss, offenbar durch den Druck des Hosenbundes geöffnet und das flache Ding sich aus Unterwäsche und Hosenbund herausgearbeitet hatte. Ich steckte es in meine Umhängetasche, sagte vielen Dank und leistete innerlich Abbitte für die Einschätzung von Charakter und Erziehung junger Leute hier...
In der Station Banderas drängte ganz zum Schluss noch ein kräftiger junger Mann in die völlig überfüllte U-Bahn. Vielleicht stieß die Tür an seinen Fuß, jedenfalls ließ sie sich nicht schließen - was übrigens häufig vorkommt. Als auch ein zweiter Versuch scheiterte, stürzte sich ein Bulle auf den jungen Mann und versuchte, ihn herauszuziehen. Aber der junge Mann war kräftig. Es gab ein Gerangel von einigen Minuten Dauer. Der junge Mann befreite sich immer wieder aus dem Griff des Bullen und stellte sich an seinen Platz. Die Mitreisenden wurden langsam unruhig und nahmen Partei für den Mann. Der Bulle rief eine stämmige Kollegin und schließlich gelang es beiden, unter den kritischen Zurufen der Reisenden, die die Bullen beschimpften, den Mann abzuführen.
Als ich ins Virreyes kam, hatte die freitägliche "bohémia" schon begonnen. Es war mächtig Remmi-Demmi im Haus, bzw. im Restaurant, das mit Einheimischen überfüllt war. Eine "bohémia" ist heutzutage so etwas wie Karaoke - früher wurde sie bestimmt mit einer Musikkapelle veranstaltet. Heute bringen sich die Leute eine Disk mit den Liedern mit, die sie dann von der kleinen Bühne aus ins Mikrophon schmettern.
Die Besucher waren meist über 50 Jahre alt und ersichtlich aus dem hauptstädtischen Kleinbürgertum. Die Damen hatten sich in Schale geworfen, in Abendkleider oder Kleider, die als solche noch durchgehen konnten. Einige der Männer trugen Strohhüte.
Es wurde gesungen, was das Zeug hielt, manche mit wirklich guten Stimmen und es schien sich um Lieder und Schlager aus der Jugend der SängerInnen zu handeln. Wäre Platz gewesen und ich in Begleitung, ich hätte mich gerne dazugesetzt. Alleine am Rand sitzen wollte ich nun nicht und zog vor, noch einen Spaziergang zu machen.
An der Ecke von Isabela Católica und Salvador war mein Urindruck so stark, dass ich in das Restaurant La India flüchtete. Ich wollte ja sowieso noch etwas essen. Ich tippte im Menü auf irgendein Fleischgericht und bekam eine riesige Schweinshaxe serviert. Was für eine Überraschung. Ich brachte das Ganze nur mit viel scharfer Guacamole hinunter und hätte danach eigentlich einen Tequila gebraucht, verzichtete aber, um meine Reaktionsfähigkeit nicht weiter zu reduzieren.
War aber überflüssig, dieser Verzicht. Um halb 11 war die Salvador und auch die Eje Central, die ich zum Hostal hinunterlief, fast menschenleer. Nur vor den beiden Schuppen nebenan, in dem fast nackte Mädchen tanzen oder ganz nackt und eingeölt zur Gaudi der Männer ringen, war noch Leben.
Bevor ich zum Spaziergang aufbrach, hatte ich mich mit einer Flasche Montejo-Bier, das viel besser als Corona ist, in die Lobby gesetzt. Ich wollte noch einmal nachlesen, was ich in Tula gesehen hatte. Ein alter Mann hatte dort ein selbstgedrucktes Heftchen verkauft. Es gelang mir nicht zu lesen. Auf der Polsterbank, die Rücken an Rücken mit der meinen stand, quatschten zwei Männer, während sich das dazu gehörige Mädchen, wie viele Andere in Bar und Lobby, ihrem Laptop widmete. Einer der beiden Männer, ungefähr 40 Jahre alt, war ein langer Typ mit kurzen blonden Haaren und einem Pferdegebiss in einem Gesicht, das man ungefähr als "ungeschlacht" bezeichnen könnte. Im linken Ohr trug er einen auffällig großen Glasbrilli. Eigentlich redete nur er. Das heißt, man konnte diese Mixtur von Sprechen und stoßweisem Gelächter, dessen Anteil bei über 50% lag, kaum als Rede bezeichnen. Aber sie störte mich um so mehr, als ich nicht einmal feststellen konnte, in welcher Sprache dieser Kerl "splachte". Bis ich den Begriff "Schanigarten" heraushörte.
Der Typ kam also aus Wien und gab wiener Anekdoten zum Besten, oder das, was er davon hielt. Und das in einem Idiom aus den ottakringerischen Hinterhöfen - das ist dort sowas, was für uns Berliner hinterer Wedding ist.
So endete mein "deutscher" Tag.